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ZU: EUROZENTRISCHE ERFAHRUNG DER ALTERALITÄT IN DER ANAMNESE REFORMATORISCHER MENTALITÄTSGESCHICHTE
Gedenken an Hans Staden, Sitzung im Rathaus der Stadt Guarujá, 2002
[Auszug]
Antonio Alexandre Bispo
Vorspann
Die Sitzungen der dritten Phase des Internationalen Kongresses Euro-Brasilianischer Studien, die in die Städten Guarujáund Ubatuba stattfinden, sind der Erinnerung an Hans Staden gewidmet. Dadurch soll den Kongreßteilnehmern die kulturwissenschaftliche Relevanz des Berichtes dieses Abenteurers des 16. Jahrhunderts ins Gedächnis gerufen werden, zumal er zu den ersten Protagonisten der Geschichte der deutsch-brasilianischen Beziehungen zählt. Sein Werk war bereits Gegenstand mehrerer Publikationen und wurde in Kursen1 und Tagungen diskutiert.2 Auch wurde es bereits mehrfach in den vorherigen Tagen des Kongresses berücksichtigt. Heute geht es bei dieser Gedenkstunde in der hierfür symbolträchtigen Stadt Guarujá nur darum, einige Aspekte hervorzuheben, die durch kontextualisierte Textanalysen dieser historischen Quelle in den Vordergrund der aktuellen Diskussionen getreten sind.
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Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die ersten Nachrichten in deutscher Sprache über die Indianer des amerikanischen Erdteils auf Angaben in Briefen von Kolumbus zurückgehen und durch den Bericht von Bartolomäus Kistler bereits 1497 verbreitet wurden. über die Indianer Brasiliens scheinen die ersten Nachrichten diejenigen gewesen zu sein, die durch die übersetzungen der Briefe von Amerigo Vespucci ab 1504 bekannt wurden. Seitdem wurde auf deutsch der Begriff "Wilde" für die Bezeichnung der Indianer verwendet, zumal auch Vespucci sie als die "piú bestial gente", "la piú brutta", "animali regionali" und "bestiis similes" umschrieb. Diese Bezeichnungen entsprachen seit langem bestehenden Vorstellungen anthropologischer Prägung, die auch in der Bildersprache des Volksbrauchtums ihren Niederschlag fanden. Auf der Iberischen Halbinsel waren bereits die Bewohner der Kanarischen Inseln als Vertreter eines fast animalischen Stadiums der Menschheit bezeichnet worden. Neben diesen äußerst negativen Auffassungen gab es aber auch positivere Wertungen der Indianer als Menschen mit Dispositionen zur Christianisierung, wie der Brief von Pero Vaz de Caminha bezeugt.3 Die Beschreibung der Entdeckung Brasiliens durch Pedro Álvares Cabral - und somit der ersten musikalischen Begegnung mit den Indianern - wurde 1508 in Nürnberg unter dem Titel "Newe unbekanthe Lande" veröffentlicht, eine Zusammenstellung von Berichten von Allessandro Zorzi in deutscher übersetzung durch den Arzt Jobst Ruchamer. 1514 erschien in Augsburg auf der Grundlage der portugiesischen Quellen die "Copia der Newen Zeytung aus Presillg Land".4 Bereits 1534/35 lebte Ulrich Schmidel aus Straubingen bei den Indianern der brasilianischen Küste. Sein Bericht wurde erst später in Frankfurt am Main (1567, 1597) veröffentlicht. Das erste deutsches Werk über die Indianer Brasiliens war der Erfahrungsbericht von Hans Staden aus Hessen (Homberg ca. 1525 - Wolfhagen ca. 1576), der 1557 in Marburg veröffentlicht wurde.5 Im gleichen Jahr erschien das Werk von Nikolaus Federmann von Ulm, in dem eine der Expeditionen des Handelshauses Walser nach Venezuela beschrieben wird. Die verschiedenen Ausgaben des Buches von Staden und seine übersetzung in viele Sprachen bezeugen die weite Verbreitung des Werkes und seine Bedeutung für das Studium der Ideengeschichte in ihrem Bezug zu den Indianern und deren Kultur. Wie der Titel des Werkes zum Ausdruck bringt, war es das Ziel von Hans Staden, eine "Wahrhafte Historie und Beschreibung" zu bieten. Er war deshalb der erste deutsche Verfasser, die klare ethnologische Beschreibungen eines Naturvolkes verfaßte.6 Obwohl dieses Werk eine wahrheitsgetreue Darstellung dessen ist, was Staden erlebt und beobachtet hatte, kann es ohne Berücksichtigung seines religiösen Gehaltes nicht adäquat betrachtet werden. Der Verfasser selbst beginnt das Werk mit einem Zitat aus dem Psalm 107 (106), 23, dessen Inhalt sich auf die Erlösung von Seefahrern bezieht, die aus den Gefahren einer Seefahrt gerettet wurden. Wie die vorausgehenden Abschnitte dieses Psalms, die andere Beispiele der überwindung einer schwierigen Phase des Lebens bieten - Schicksale von Pilgern in der Wüste, von befreiten Gefangenen und von geheilten Kranken - , so stellt der von Staden erwähnte Text ein Dankeslied von Gläubigen dar, die eine Errettung erlebt hatten. Das Werk von Staden selbst hat in diesem Sinne gleichsam einen psalmodischen Charakter, denn es ist ähnlich wie ein Psalm strukturiert: Beschreibung der Gefahr, Bitte um Gotteshilfe mit darauffolgender Rettung und die Notwendigkeit des Dankes. So wie der Psalm hat es nicht den Charakter der Aufforderung zum Dank, sondern es stellt selbst einen Akt des Dankens dar. Das Werk von Staden hat auch keinen ethnologischen und missionarischen Charakter im eigentlichen Sinn; es ist ein Dankeslied und dient der geistigen Erhebung der Gläubigen. Dieser Sinn wird aus dem Schluß des entsprechenden Psalms ersichtlich, der die Macht Gottes preist, das Schicksal der Natur und des Menschen zu bestimmen. Die Beschreibung der Gefahr und die Bitte um Hilfe in der Arbeit von Hans Staden beziehen sich auf die Zeit seiner Gefangenschaft bei den Tupinambá, als ihm bevorstand, getötet und aufgegessen zu werden. Bei seiner ersten Fahrt nach Brasilien fuhr Staden von den Niederlanden nach Portugal (Setubal), wo er im April 1547 ankam. Gleich danach verließ er Lissabon in Richtung Brasilien, wo er bis Oktober 1548 verblieb. Während seiner zweiten Reise (1549-1555) wurde er von den Tupinambágefangengenommen, die auf der Seite der Franzosen gegen die Portugiesen kämpften. Er lebte neun Monate bei diesem Volk und wurde schließlich von einem Seefahrer aus der Normandie losgekauft, der ihn nach Frankreich brachte. Staden wurde zum Opfer eines Konfliktes zwischen Stämmen, der durch den Handel mit Europäern, die aus verfeindeten Nationen stammten, verstärkt wurde. Die wichtigsten Indianer-Völker bei diesem Konflikt waren die Tupiniquim, ein Name, der als "Vetter oder Verwandter von Tupi" gedeutet wird, und die Tupinambá, die "Nachkommen der Tupi". Letztere lebten in der Region zwischen dem Fluß Doce und Itanhaem an der Ostküste Brasiliens. Da Staden im Dienst der Portugiesen stand, nahmen die Tupinambáan, auch er sei Portugiese. Staden verfaßte seine Beschreibung nicht als externer Beobachter, sondern als Opfer von zeremoniellen Praktiken und Riten. Er stellte somit gleichsam in zugespitzter Weise das erste Beispiel eines "partizipierenden Beobachters" in der Geschichte der Ethnologie dar. In Wirklichkeit dienten jedoch seine Erlebnisse als Beispiel einer Auffassung religiöser Prägung, die für das theologische Denken der Reformationszeit bedeutsam war, nämlich der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben. Mit seiner "Wahrhaften Historie und Beschreibung" gibt Staden ein Beispiel dafür, wie die Rechtfertigung nicht aus der moralischen Tat, aus dem Werk, in diesem Fall aus seinen Versuchen, die Indianer von ihren Absichten abzubringen, sondern allein aus der Annahme des Urteils Gottes, in der Hoffnung auf Barmherzigkeit und Erlösung erfolgt. Die Musik spielte in diesem Werk durch ihren Bezug zur Religion eine außerordentlich bedeutende Rolle. Musikinstrumente und die Musikpraxis sowie der Tanz der Indianer werden zur Charakterisierung der spirituellen Stufe der Einheimischen benutzt. Einem Musikinstrument wird letztlich die Schuld dafür gegeben, daß Staden in eine ausweglose Situation gelangte. Nach Stadens eigenen Worten wurde er auf Befehl einer Maraca gefangengenommen. Naturgemäß widmete er diesem Instrument, das er Tamerka oder Tammaraca nennt, eine besondere Aufmerksamkeit. Wie er im II. Buch seines Werkes - "Wahrhafftiger kurzer bericht/handel und sitten der Tuppin Inbas ( )" - erkennen läßt, bemerkte er die allgemeine Verbreitung dieses Instruments bei den Indianer-Völkern Brasiliens. Dies ist aus seinem Hinweis auf ein Volk in den Gebirgen der Ostküste Brasiliens und der Umgebung von Bahia zu entnehmen, das sogar Maraga hieß und ebenfalls die Maraca kannte: "Sie haben sunst auch der rasselen/Maraca genant/ wie die andern Wilden/ welche sie fuer goetter halten/haben ire getrencke und daentze/ ( )" Staden sah in diesem Musikinstrument die Grundlage des religiösen Systems der Indianer. So bot er eine eingehende Beschreibung der Maraca in dem Kapitel, das er speziell der Betrachtung des Glaubens der Indianer widmete. In diesem Text ging er auf die Herstellung des Instruments, auf seinen Gebrauch durch die Männer und auf seine geistige Macht ein, die jährlich von den Pajés erneut wurde. Die Maraca wurde im Werk Stadens nicht nur flüchtig behandelt, sondern mit Hilfe von Abbildungen in Stichen dargestellt und in ihrer Funktion und ihrem Kontext beschrieben. [...] 7 Einer der beeindruckendsten Abschnitte des Werkes bezieht sich auf den Tanz, der gleich nach seiner Gefangennahme von Indianerinnen vor den Hütten aufgeführt wurde, in denen die Maracas aufbewahrt wurden. Die Frauen bereiteten ihn zum Tanz vor, schmückten ihn mit Federn und banden Schellen an seine Beine. Von zwei Frauen umgeben mußte er inmitten eines Kreises zum Klang eines Frauenchores tanzen, indem er den Takt mit den Schellen markierte. Staden wurde demnach dazu gezwungen, nach indianischer Art zu tanzen, bevor die Musikinstrumente aus den Hütten herausgebracht und um ihn herum aufgestellt wurden. "Wie sie mit mir tantzten vor den huetten/darinne sie die abgoetter Tamerka hatten. Ca. 24. Darnach fuhrten sie mich von dem Ort/ da sie mir die augenbrawen ab geschoren hatten/ vor die hütten/ da die Tammerka ire abgoetterinn ware/ und machten eyne unten kreyß umb mich her/ da stund ich mitten innen/ unnd zwey weiber bei mir/ und bunden mir an eyn beyn etliche dinger an eyner schuren/ die rasselten/ und bunden mir auch eyne scheibe von voegel schwentzen gemacht/ war vierecket/ binden auff den hals das sie mir uber das heubt gieng/ und heysset auff jee sprache Arasoya/ darnach fieng das weibsvolck alle mit eynander anzusingen/ und gleich wie ir thon lautet/ so muste ich mit dem beyne/ daran sie mir die rasseln gebunden hatten/ nider tretten/uff das es rasselte und zusammen stimmete. Und das beyn darin ich verwundet war thet mir so wehe/ das ich kaum stehen kunte/ dann ich war nit verbunden." "Wie sie mit jren feinden tantzten/ da wir uns des andern tages legerten. Cap. 44. ( ) Den selbigen abent gebot er/ eyn yeder solt seine gefangene vor den walt bringen bei das wasser auff eynen platz. Das geschahe. Da versamleten sie sich/ machten eynen grossen runden kreyß/ da stunden die gefangenen in. Da musten die gefangenen alle sampt singen unnd rasseln mit den Abgoettern Tammaraca. Wie nun die gefangenen gesungen hatten/fiengen sie an zureden eyner nach dem andern/ ( )" Seine Absicht war es, die Indianer aufzuklären, daß die Maraca keinerlei Kräfte besaß und nicht in der Lage war, Botschaften zu vermitteln. Als Beweis führte er an, daß es ein Irrtum sei, mit Hinweis auf die Aussage der Maraca davon auszugehen, er wäre ein Portugiese. Diese Erwähnung ist im Gesamtkonzept des Werkes bedeutsam: Staden versuchte den Indianern zu zeigen, daß ihr Glaube nichtig war. Er dagegen bezeugte offen seine christliche überzeugung auch mit Kirchenliedern. Als die Indianer ihn darum baten zu singen, intonierte er ein geistliches Lied und erklärte ihnen, daß er von seinem Gott singen würde.
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1 Im internationalen Rahmen zunächst bei der I. Deutsch-Brasilianischen Musikwoche, Leichlingen 1981. Hierzu des Verfassers "Einführung in die Musikgeschichte Brasiliens für deutsche Musikschüler", Brasil/Europa & Musicologia, hg. v. H. Hülskath, Köln, 1999, 384-389.
2 Hierzu des Verfassers "Der deutsche Beitrag zum Musikleben São Paulos (Vortrag bei InterNationes, Bonn, 22. Februar 1994), Brasil-Europa & Musicologia, op.cit., 396-402.
3 Hierzu u.a. H. Hülskath, "Akademie Brasil-Europa/I.S.M.P.S. e.V.", Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen (...), Köln, 1999,27-28.
4 Hierzu des Verfassers "Die Musikkulturen der Indianer Brasiliens, Stand und Aufgaben der Forschung IV, Zur Geschichte", in A. A. Bispo (Org.), Die Musikkulturen der Indianer Brasiliens, in: Musices Aptatio/Liber Annuarius 2000/1, hg. von R. Schumacher, Siegburg 2002, 1-419.
5 Hans Staden, Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der wilden nacketen grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen. Faksimile-Wiedergabe nach der Erstausgabe "Marpurg uff Fastnacht 1557" mit einer Begleitschrift (zweite vermehrte Auflage) mit 6 Abbildungen und 1 Karte von Richard N. Wegner. Frankfurt a. M., Wüsten, 1927.
6 R. N. Wegner, Begleitschrift, op.cit. 18.
7 Jean de Lery, Unter Menschenfressern am Amazonas: Brasilian. Tagebuch 1556-1558, 2. Aufl., Tübingen 1977.
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