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REKONSTRUKTION DER MENTALITÄTSGESCHICHTE AUS DEM MUSIKHISTORISCHEN GEDäCHTNIS RADIÄRER ZENTREN
Festvortrag im Museum kirchlicher Kunst von Paraty, Kongreß Euro-Brasilianischer Studien 2002
[Auszug]
Antonio Alexandre Bispo
Wenige Städte gibt es, die geeigneter sind als Paraty, Reflexionen über Gedächtnis und Geschichte anzuregen. Alles hier erinnert an vergangene Epochen: die Architektur der Häuser, das außerordentlich gut erhaltene urbane Netz, die Einbettung in die fast unberührte Natur. Man spürt jedoch, daß diese Vergangenheit nicht tot ist, da über die lebendige Zauberkraft der Räume hinaus ihre Einwohner menschliche Werte bewahrt haben, die in den großen Städten wegen deren Umtriebsamkeit und Hektik nur noch selten anzutreffen sind. Diese menschlichen Werte äußern sich auch in der außerordentlichen Gastfreundschaft, mit der wir hier empfangen werden und für die wir uns herzlichst bedanken möchten. Man nimmt also wahr, daß sich Memoria nicht nur auf Räume und Mauern der historischen Stadt bezieht, sondern in erster Linie auf die Zeit, die vor allem auch der gegenwärtige Augenblick ist, der die Potenzialität des Ursprungs und den Keim dessen in sich trägt, was sein wird. Wenige Städte gibt es so, die geeigneter als Paraty sind, Reflexionen über Gedächtnis und die Konstruktion der Zukunft anzuregen. Aus diesem Grund hat der Internationale Kongreß Euro-Brasilianischer Studien 2002, der das Triennium interdisziplinärer Arbeiten zum Anlaß der 500-Jahr-Feier der Entdeckung Brasiliens beendet, diese Stadt gewählt, um die letzte Phase der Arbeiten durchzuführen, die dem Thema "Memoria und Musik in der Erschaffung der Zukunft" gewidmet ist.1 Warum Musik? Seit ältesten Zeiten galt das Gedächtnis, Mnemosyne, als Mutter der Musen, jener Töchter des Wassers, die, vom höchsten Gott gezeugt, symbolisch die Musik, das Chorsingen, die Dichtung, den Tanz, die Redekunst und andere musische Betätigungen im weiten metaphorischen Sinne des Begriffs versinnbildlichen. Orpheus soll Kind der Musen gewesen sein, jener mythische Sänger, der mit seiner Lyra selbst die animalische Natur besänftigte und sogar in die Unterwelten abgestiegen und zurückgekehrt ist.2 In den ersten Jahrhunderten des Christentums wurde deshalb Orpheus auch als symbolischer Typus Christi angesehen, d.h. als unvollständiges, unerlöstes Vor-Bild des Anti-Typus.3 Orpheus erscheint somit als eine Art Moses, der auch nach der Deutung von Gelehrten und Theologen vergangener Jahrhunderte der Entdecker der Lyra, des Sinnbildes der Musik schlechthin, war, ein Musaios des Alten Testaments. Aus diesem Grund ziert auch das Bild des Orpheus aus einer Katakombe frühchristlicher Zeit das Titelblatt der Publikationsreihe des Instituts für hymnologische und musikethnologische Studien, das mit der päpstlichen Organisation für Kirchenmusik verbunden ist, einer Publikationsreihe, in der die Resultate unseres Projekts zur Erforschung der Musikkulturen der Indianer Brasiliens erscheinen. Aus diesem Grund findet auch hier in Paraty eine Arbeitssitzung des V. Internationalen Symposiums "Kirchenmusik und Brasilianische Kultur" statt, das im Rahmen unseres Kongresses Euro-Brasilianischer Studien durchgeführt wird. Paraty, umgeben von Wasser, dem Element der Musik - der aquatischen Wissenschaft der alten Philosophen4 - schlechthin, ist eine Stadt, die Musikalität gleichsam atmet. Was wissen wir aber über die Musik Paratys? über die Musik jener Epoche, von der seine Häuser, seine Räume und vielleicht auch die Seele seiner Einwohner sprechen? Kaum etwas! Diese Musik lebte jedoch oberhalb des Gebirges, das die Stadt umgibt. Der Gesang der goldenen Jahren von Paraty blieb lebendig im Gedächtnis von Städten am Weg des Goldes, vor allem in Cunha,5 von wo aus er auch in benachbarten Siedlungen und Städten wie Lagoinhas und São Luís do Paraitinga ertönt, und er war selbst in Guaratinguetáund im ganzen Paraíba-Tal zu hören. Erinnerung und Musik von Paraty trugen zur Konstruktion der Zukunft dieser Regionen im Verlaufe des 19. Jahrhunderts bei, zu einer Zeit also, als Paraty bereits seine Rolle verloren hatte, das wichtigste Portal der Beziehungen dieses Teils von Brasilien zu Europa zu sein. Wir haben das Glück, im Archiv des Brasilianischen Instituts für Musikwissenschaftliche Studien über Materialien zu verfügen, die mit viel Mühe und Engagement beim ersten systematischen Projekt der Entwicklung einer theoriegeleiteten Quellen- und Dokumentenforschung gesucht, erworben und seitdem aufbewahrt wurden und die Musikvergangenheit jener Städte São Paulos dokumentieren, die von der kulturellen Ausstrahlung Paratys gelebt haben.6 Seit Jahrzehnten werden eingehende Untersuchungen dieser Quellen durchgeführt, allerdings unter geeigneten, kulturwissenschaftlich reflektierten Perspektiven, fern von jeglicher reduzierter Archivistik und von Editionsvorhaben, die Werkausgaben und Denkmälereditionen Europas imitieren und heuristische Vorarbeiten mit strenger Wissenschaftlichkeit verwechseln. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die allmählich über die Correspondência Musicológica Euro-Brasileira durch das Internet einen noch größeren Kreis von Interessierten in Brasilien und im Ausland erreichen werden, lassen erkennen, daß Paraty in der Musikgeschichte Brasiliens zur Kolonialzeit sowie zur Zeit des Vereinigten König- und des Kaiserreiches eine außerordentliche Rolle gespielt hat. Diese Rolle wurde bisher wenig beachtet, auch aus Gründen provinzieller und regionaler Einengungen, die z.T. auf der Seite von Forschern aus São Paulos, z.T. vielleicht auch auf der Seite von Studierenden aus Minas Gerais zu spüren waren, da eben Paraty zu Rio de Janeiro gehört. Es ist praktisch unmöglich, ohne die Berücksichtigung des Hafens von Paraty die Pflege von europäischen Werken des 18. Jahrhunderts in Städten abgelegener, von der Hauptstadt São Paulos ferner Regionen nachzuvollziehen, die zur damaligen Zeit durch die Zuckerrohrplantagen und später durch die Kaffeeplantagen zu Wohlstand gelangten. In jenen Orten wurden z.B. Werke von Stamitz und anderen Gestalten des mitteleuropäischen Musiklebens aus der sogenannten Vorklassik der Schule von Mannheim, darüber hinaus Werke von Franzosen und Italienern aufgeführt, was eine bemerkenswerte Aktualität in der Musikrezeption bezeugt, die nur durch das Erhalten von Noten und Musikinstrumenten erklärt werden kann, die im Hafen von Paraty ankamen. Um die musikgeschichtliche Bedeutung von Paraty würdigen zu können, reicht es jedoch nicht aus, sich allein auf Betrachtungen des allgemeinen historischen und wirtschaftlichen Kontextes zu stützen. Einige der erhaltenen Notendokumente enthalten ausdrückliche Hinweise auf diese Stadt, die bezeugen, daß Kopien von hier zu Ortschaften auf dem Gebirge mitgenommen wurden und dort Musiker wirkten, die in Paraty keine Möglichkeit des beruflichen überlebens mehr fanden. Diese Krise im Musikleben Paratys, die in den 30er Jahre des 19. Jahrhunderts allmählich gravierende Ausmaße annahm, war auch in der Hauptstadt des Reiches spürbar, als die ökonomischen Schwierigkeiten des jungen Staates nach der Unabhängigkeit von Portugal einschneidende Maßnahmen bei der Erhaltung von Orchestern und Chören in den Kirchen erforderten. Einer der Musiker Paratys hielt seine berufliche Frustration auf einer der Noten, die er benutzte, mit einem einfältigen, aber sinnträchtigen Vers fest, in dem mit einem Wortspiel das Geldverdienen beim Glückspiel aussichtsreicher als beim Musikspiel dargestellt wird: "Lassen wir von der Musik ab, da sie kein gutes Geld bringt. Lasst uns eher die Karten in dieser Welt spielen." Diese Notiz der Zeit findet sich in einer Novena oder einem Setenário do Espírito Santo in C- Dur von AndréGonçalves Paixão aus dem Jahre 1835. Dieser Musiker lebte wahrscheinlich in Paraty, da viele andere Kompositionen auch seinen Namen tragen. Wir bitten den lokalen Geschichtsforscher darum, uns zu helfen, diesen Künstler und Kopisten zu identifizieren. Die Novena bzw. der Setenário do Espírito Santo bezeugt die außerordentliche Bedeutung des Kultes der Dritten Person der Dreifaltigkeit in Städten wie São Luís do Paraitinga, wo sie bis in der Gegenwart mit dem Brauch der Errichtung eines "Império do Divino" und mit der Krönung eines Kaisers des Heiligen Geistes gefeiert wird,7 eine Tradition, die dokumentarisch belegt von den Azoren nach Brasilien übernommen wurde.8 Diese traditionellen Darstellungsweisen und Ausdrucksweisen religiösen Lebens konnten aber nicht die Ortschaften auf der Hochebene erreicht haben, ohne durch ihre Träger auch in Paraty bekannt geworden zu sein. Diese Novena wurde vierstimmig gesungen und mit Violinen und Baß instrumental begleitet, was den Glanz der Anbetungsformen des Heiligen Geistes und den Geist der religiösen Kultur der Zeit erkennen läßt. Das Feuer, das in der theologischen Symbolsprache mit der Ausstrahlung des Geistes einhergeht, scheint hier - ohne hermeneutische Grenzen überstrapazieren zu wollen - bildlich durch eine lebhafte orchestrale Begleitung voller brillanter Instrumentalfigurationen sowie virtuoser solistischer Vokalpartien musikalisch wirksam geworden zu sein. In Paraty müssen demnach Instrumentalisten gelebt haben, die ausgebildet und technisch in der Lage waren, solche schwierige Passagen zu bewältigen. Mit dem Niedergang der Musikpflege in den Kirchen konnten sie zur Entfaltung einer weltlichen Musikpraxis beitragen, die aus Tanz- und Salonmusik bestand und später in den Blaskapellen weiterlebte, deren Repertoire im Vergleich zu anderen Städten Werke von bemerkenswertem aufführungstechnischen Anspruch enthält. Einer dieser Musiker war Manoel da Costa Cabral, ein wichtiger Name aus der Kulturgeschichte der Region, der stets mit Paraty in Zusammenhang erscheint und wahrscheinlich der Autor des Setenário das Dores war. Dieses vierstimmige, instrumentalbegleitete Werk zeichnet sich durch seine prägnante, von den Violinen geführte melodische Linie voller punktierter Figuren aus, die unweigerlich im Gedächtnis der Hörer haften blieben. Dieser Manoel da Costa Cabral war eben auch der Komponist von Phantasien und Cavatinen von bekannten Opern des europäischen Repertoires des 19. Jahrhunderts, die sich ebenfalls in den Städten der Hochebene verbreitet haben. Eine seiner Kompositionen, eine Cavatina Nr. 9, wurde so 1870 nach Mantiqueira gebracht und in Cunha mehrfach kopiert, zunächst 1878 von B. Veiga und zuletzt um die Jahrhundertwende von dem Kapellmeister Horácio Moreira Querido. Eine "Fantasia variada" Nr. 6 für Klarinette in Es von Manoel da Costa Cabral diente noch 1911 sogar als wertvolles Geschenk unter Musikern von Cunha, was auch die Beliebtheit dieses Instruments neben der Klarinette in B und der Flöte in der Musik Paratys bezeugt. Es ist nicht möglich, vom Musikrepertoire Paratys der Vergangenheit zu sprechen, ohne die Quadrillen zu berücksichtigen. Wir wissen alle, daß die Quadrillen unsere Salons beherrscht haben und daß sie bis heute für die Festtraditionen des Geburtfestes von Johannes dem Täufer charakteristisch sind. Sie stammten von den englischen Country Dances ab, erreichten eine Blütezeit in den Tanzsälen von Paris am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurden - sich von dort in der Welt ausbreitend - auch in unseren aristokratischen Kreisen des Königreiches und des ersten Kaiserreiches getanzt.9 Es gibt jedoch im bereits bekannt gewordenen Repertoire von Tanzmusik der Musikgeschichte Brasilienes kein eindrucksvolleres Zeugnis für die Popularität der Quadrillen als die erhaltenen Hefte mit Tanzstücken aus Paraty, die aus der Zeit vor dem Paraguay-Krieg stammen. Dadurch erkennt man, daß in Paraty bekannte Ausschnitte aus Opern von Verdi, Rossini und Auber bearbeitet wurden. Es wird darüber hinaus ersichtlich, daß neben europäischen Kompositionen auch Werke brasilianischer Komponisten der Zeit rezepiert wurden. So ist in dieser Sammlung Henrique Alves de Mesquita vertreten, der renommierte Stipendiat des Kaisers in Frankreich, Autor u.a. der Oper "La Nuit au Chateau", deren Melodien für eine Quadrille in Paraty verwendet wurden. Auch findet man in diesem Konvolut eine "Quadrilha Brasileira" ohne Angabe des Komponisten, die wie die übrigen für ein ansehnliches Instrumentalensemble bearbeitet wurde. Diese Quadrillen von Paraty konnten einem internationalen Publikum bei der in Deutschland veranstalteten Ausstellung mit historischen Bildern von Paraty zum Anlaß der Kommemorationen der brasilianischen Mutter von Thomas Mann vorgestellt werden, als zum ersten Mal die Musik im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Studien über Paraty in Europa behandelt wurde.10 Auch die Blaskapellen der Hochebene bewahrten das Gedächtnis der glanzvollen Musikvergangenheit von Paraty.11 So kopierte ein Musiker aus Cunha namens Theotonio da Silva 1901 für die Musiker seiner Stadt einen Dobrado N° 36, der "Viva Paraty" hieß. Also: "Viva Paraty!" Stadt, die uns lehrt, die Vergangenheit neu zu lesen, die in uns die Erinnerung an einen kreativen Prozeß des Ursprungs wachruft, der auch als Paradigma eines schöpferischen Prozesses der Zukunft in der Gegenwart angesehen werden kann, stets dynamisch und lebendig, niemals Kopie einer vorgegebenen Idee, Ergebnis der Memoria und Memorien, flüssig wie das Wasser dieser Bucht, musikalisch wie die Harmonie der Häuser dieser Stadt.
1 Zum Beginn der Diskussion über Fragen von Memoria und Historiographie in der Musikforschung Brasiliens: A. A. Bispo, "História da Música e Memória Musical: O Método Retrospectivo (1973)", Brasil/Europa & Musicologia, hg. H. Hülskath, Köln, 1999, 187-189.
2 Hierzu A. A. Bispo, "Orpheus und der Portugiesische Sprachraum (1986)", op.cit., 299-306.
3 Zur Terminologie: A. A. Bispo, Typus und Anti-Typus: Analyse symbolischer Konfigurationen und Mechanismen zur Erschließung neuer komparatistischer Grundlagen für den interreligiösen Dialog und den Dialog der Kulturen, Köln, Anais de Ciência Musical da Akademie Brasil-Europa für Kultur-und Wissenschaftswissenschaft, 2003 (1997).
4 Hierzu des Verfassers "Tempo, Espaço, Matéria: Uma Introdução ao Estudo da Estética (1972)", Brasil/Europa & Musicologia, op.cit. 17-24.
5 Zur Musikforschung dieser Stadt: A. A. Bispo, "Benedicto Moreira: O Vale do Paraíba perde um representante do seu passado musical", Correspondência Musicológica 9(1991), 20.
6 Zunächst berücksichtigt in: A. A. Bispo, Die katholische Kirchenmusik in der Provinz São Paulo zur Zeit des brasilianisschen Kaiserreiches (1822-1889), Regensburg, 1980 (Kölner Beiträge zur Musikforschung 108).
7 Hierzu A. A. Bispo, "Kirchenmusik und Kulturfragen in Brasilien", Kirchenmusikalisches Jahrbuch 70(1986), 123-141.
8 Hierzu A. A. Bispo, "Os Açores e o Brasil na Pesquisa Musical (1974)", Brasil/Europa & Musicologia, op.cit., 267-268.
9 Hierzu des Verfassers "O Papel da Dança na História da Música no Brasil do Século XIX (1971)", Brasil/Europa & Musicologia, op.cit., 110-113.
10 A. A. Bispo, "Musik im Leben der Mutter der Brüder Mann in Brasilien (1999)", Brasil/Europa & Musicologia, op.cit. 466-475.
11 A.A.Bispo, "Blasmusikforschung und -förderung in Brasilien", Alta Musik: Eine Publikation der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung und Förderung der Blasmusik in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz, 9, hg. v. B. Habla, Johann Joseph Fux und die barocke Bläsertradition, Kongreßbericht Graz 1985, Tutzing, 1987, 253-262.
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