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MUSIKFORSCHUNG BEI DER VERARBEITUNG DER VERGANGENHEIT UND BEI DER VERÄNDERUNG DER GEGENWART ZUR KONSTRUKTION SOZIAL GERECHTERER ZUKUNFT
Präsentation der Publikation "Die Musikkultur der Indianer Brasiliens IV" im Sala do Índio, Palácio do Itamaraty des Brasilianischen Außenministeriums in Rio de Janeiro, 2002
[Auszug]
Antonio Alexandre Bispo
Im Rahmen dieser Feier zum Abschluß des Internationalen Kongresses Euro-Brasilianischer Studien 2002, die symbolträchtig in diesem índio-Saal des Museums Diplomatischer Geschichte des Itamaraty-Palastes stattfindet, wird der vierte Band der Publikation mit Forschungsergebnissen des Projekts "Die Musikkulturen der Indianer Brasiliens" vorgestellt, das vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wurde. Wir begrüßen alle hier versammelten Experten aus dem In- und Ausland sowie die Repräsentanten der Organe und Institutionen, die uns unterstützen, allen voran des Brasilianischen Außenministeriums, der indianischen Organisationen, der Erzdiözese von Rio de Janeiro, der Benediktinerabtei Rio de Janeiro, der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, der Bundesuniversität von Goiás, der Bundesuniversität von Minas Gerais, der Universität von Cuiabá, Mato Grosso, der Universität Anhembi von São Paulo, des Instituts für Tropenwissenschaften der Katholischen Universität Goiás und des Museu do índio der FUNAI. Ich möchte zu diesem Anlaß einige Worte über die Geschichte, die Zielsetzung und die Entwicklung des Projekts "Die Musikkulturen der Indianer Brasiliens" sagen, da durch unglückliche Formulierungen in Vorworten und Einleitungsworten der bisher erschienen Bände Mißverständnisse entstanden sind, die erst beim Nachwort im Abschlußbericht richtiggestellt werden können. Die Notwendigkeit einer umfassenden Erhebung des Standes des Wissens über die Musikkulturen Brasiliens wurde dringend spürbar, als der erste Hochschulkurs im Fach Ethnomusikologie im eigentlichen Sinne des Terminus im Jahr 1972 an der Fakultät des Musikinstituts von São Paulo unter meiner Orientierung eingerichtet wurde. Die Vorarbeiten und begleitenden Studien bei dieser Pionierarbeit der Etablierung des Fachs in Brasilien konnten nur in Zusammenarbeit mit einer Kommission von Experten aus mehreren Regionen Brasiliens und aus dem Ausland in Angriff genommen werden, unter ihnen Marius Schneider, Martin Braunwieser, Desiderio Aytai und Helza Cameu, die damals ihr grundlegendes Werk "Einführung in das Studium der indigenen Musik Brasiliens" vorbereitete. Es wurden Gruppen aufgesucht, die in Regionen lebten, die damals von im Bau befindlichen Straßen erschlossen wurden, so z.B. die Comacans und Maxakalis in Espírito Santo und im Süden von Bahia. Es wurden auch Kontakte zu Indianergruppen von Mato Grosso, Rondonia und Goiás durch Studenten und Mitarbeiter aufgenommen. In diesem Zusammenhang sei an den Architekten J .de Andrade und an Nicole Jeandot dankbar gedacht. Im Verlaufe dieser Arbeit der Organisation des Faches Musikethnologie mußte konstatiert werden, daß allgemein Schwierigkeiten bestanden, musikethnologische Publikationen in den brasilianischen Bibliotheken zu finden, und insbesondere Fachstudien über Gesang und Tanz der Indianer unseres Landes praktisch nicht existierten. Daten über die indigene Musik fanden sich in Briefen von Missionaren aus verschiedenen Jahrhunderten, in Reiseberichten unterschiedlichster Provenienzen, in literarischen Werken ohne wissenschaftlichen Anspruch, in allgemeinen ethnologischen und anthropologischen Arbeiten, in Zeitungen, Zeitschriften, Dokumentarfilmen und anderen Quellen diverser Herkunft. Noch schwieriger war es, an Klangdokumente indigener Musik zu kommen. So begann damals eine systematische Erhebung von historischen Quellen aus allen Epochen, die von Reflexionen über die jeweiligen Kontexte und Interpretationsmuster begleitet wurden, und viel von dem Material in dem heute vorgestellten Band geht auf diese Studien vom Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurück. Zwischen 1974 und 1979 konnten in verschiedenen Ländern Europas Museen besucht werden, die indianisches Material aufbewahren. Auch fanden wissenschaftliche Begegnungen mit Ethnologen und Musikethnologen statt, um Fragen der Methode bei der Analyse indigener Musik zu diskutieren. Bei der Gründung der Brasilianischen Gesellschaft für Musikwissenschaft 1981 wurden alle Anstrengungen unternommen, Studierende und Forscher der Indianer-Kulturen in das Netz der Musikwissenschaftler einzubeziehen, die sich auf nationaler und internationaler Ebene mit Brasilien befaßten. Es war eben das erste Mal, daß ein umfassendes, alle Bundesstaaten Brasiliens einschließendes Netzwerk von an Musikforschung Interessierten aufgebaut wurde, eine Arbeit, die leider im Laufe der nächsten Jahre umstandshalber nicht fortgesetzt werden konnte. Bei der ersten Musikwoche, die Brasilien in Deutschland 1980 gewidmet wurde und eine wissenschaftliche Reihe von Vorträgen umfaßte, wurde den Indianern Brasiliens bereits eine herausragende Stellung zugemessen. Beim Ersten Brasilianischen Kongreß für Musikwissenschaft, der im Villa-Lobos-Jahr 1987 gleichzeitig mit dem Regionaltreffen des Projekts "Musik im Leben des Menschen" des Internationalen Musikrates/UNESCO veranstaltet wurde, konnte zum ersten Mal in unserer Geschichte eine spezielle Sitzung allein der Musikethnologie unter besonderer Berücksichtigung der Indianer gewidmet werden; volkskundliche Themen wurden dann gesondert in einer eigenen Sitzung im Museum für Volkskunde der Brasilianischen Gesellschaft für Volkskunde behandelt. Zu diesem Anlaß wurde eine großangelegte Ausstellung von indianischen Musikinstrumenten durch das Museum der Universität São Paulo organisiert, die im festlichen Treppenhaus des historischen Gebäudes auf dem Ipiranga-Hügel in São Paulo stattfand. Diese Ausstellung wurde von der Publikation einer einführenden Fachbibliographie zum Studium der Musik der Indianer begleitet. Die Arbeiten dieses Kongresses ließen jedoch deutlich die beklagenswerte Situation der musikethnologischen Studien in Brasilien erkennbar werden. Die Musikhistoriker, die z.T. noch von nationalistischen Auffassungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oder von historizistischen Tendenzen einer nicht kritisch reflektierten Sicht der Kolonialmusikgeschichte geprägt waren, widmeten sich fast ausschließlich der europäisch geprägten Kunstmusik des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Es konnten kaum Anzeichen für ein wissenschaftliches Interesse für die Erforschung der Rolle der Indianer im Musikleben und in der soziokulturellen Formung Brasiliens der Vergangenheit seitens der historischen Musikwissenschaft ausgemacht werden. Diese Situation besteht leider bis heute noch fort, da unsere musikhistorisch orientierten Forscher offenbar noch der längst überholten Meinung sind, Musikwissenschaft bestehe hauptsächlich in der Aufdeckung und Edition von Noten des 18. Jahrhunderts. Die Folklore-Forscher dagegen, in der Mehrheit davon überzeugt, Indianer-Kulturen würden in den Bereich der Ethnologie und Anthropologie fallen, hielten sich, um ihre Kompetenz nicht zu überschreiten und unangemessene Methoden anzuwenden, von ihnen distanziert. Diese Vorsicht führte leider dazu, daß die Untersuchung von Kulturkomplexen in Regionen, die besonders von der Interaktion mit Indianer-Kulturen geprägt sind, unter einseitigen Gesichtspunkten erfolgte. Auch wurde durch diese fachliche Trennung das Panorama der geschichtlichen Entwicklung kultureller und kulturidentifikatorischer Formung Brasiliens verzerrt darstellt und verbreitet. Bereits zu Beginn der siebziger Jahre war bei der Errichtung des Faches Musikethnologie in São Paulo interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Museum für Volkskunde der Gesellschaft für Volkskunde Brasiliens auf den Weg gebracht worden. Von der Seite dieser Experten war auf jeden Fall Bereitschaft zu einer Revision von Begrifflichkeit und Methodologie vorhanden, wie sich auch während des Kongresses zeigte. Das größte Problem kam aber von der Seite der Ethnologie selbst. Die Experten besaßen - anders als viele Volkskundler - selten musikalische und musikwissenschaftliche Vorbildung und waren vielfach nicht in der Lage, musikalisch relevante Erscheinungen bei ihrer Forschungen zu beachten und angemessen zu analysieren. Am gravierendsten erwiesen sich beim Kongreß die Positionierungen und Methoden der wenig ausgebildeten Musikethnologen, die meist in Nordamerika oder Berlin studiert hatten. Diese zeigten sich dermaßen von theoretischen Konzeptionen und kritischen Besorgnissen um fachpolitische Konstellationen in Anspruch genommen, daß sie kaum inneres Gleichgewicht oder gar Interesse zeigten, sich mit konkreten Fragen kontextualisierter Situationen der Indianer-Realität auseinanderzusetzen. Arbeiten nordamerikanischer Musikethnologen und Musikanthropologen mit einen hohen Bekanntheitsgrad im In- und Ausland fielen wissenschaftstheoretisch weit hinter den Stand zu Beginn des Faches Musikethnologie in Brasilien in den siebziger Jahren zurück. Angesichts dieser schwierigen Situation der Studien in einem Bereich, der dringend Untersuchungen erforderte, votierte der Kongreß in seiner letzten Sitzung für eine möglichst umfassende Erhebung des Standes des Wissens über die Musikkulturen der Indianer, um die Aufstellung von Prioritäten für zukünftige Arbeiten zu ermöglichen. Nach mehreren Jahren der Vorbereitungen konnte nun die Zusammenstellung der Forschergruppen im Rahmen des II. Brasilianischen Kongresses für Musikwissenschaft initiiert werden, der bezeichnenderweise 1992 im Jahr des 5. Zentenars der Entdeckung Amerikas und der Welt-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro stattfand. Mit Hilfe des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland nach Anhörung des Kultursekretariats des Präsidenten Brasiliens sowie der diplomatischen Vertretung Brasiliens in Deutschland und mit Unterstützung der Abteilung für Ethnologie des Nationalmuseums und mehrerer Universitäten, geistlicher Orden und nicht offizieller Organisationen wurde die Erhebung der Sammlungen von Musikinstrumenten und Tonaufnahmen der wichtigsten Museen und Institutionen in Brasilien und im Ausland in Angriff genommen. Die Forschergruppen wurden aus Experten verschiedener Disziplinen gebildet, wobei Direktoren und Mitarbeiter von Museen und Instituten motiviert wurden, Kataloge der vorhandenen Dokumente herzustellen, die vielfach bis dahin nicht organisiert waren. Es ist beglückend festzustellen, wie dieses Projekt zur Aufwertung der musikethnologisch relevanten Sammlungen mehrerer Einrichtungen beigetragen hat, wie des gestern besuchten Museu do índio oder des Archives Puttkammer des Instituts für Vorgeschichte und Anthropologie der Katholischen Universität von Goiás, dem der heute vorgestellte Band gewidmet ist. Es wurden mehrere Kontakt- und Forschungsreisen in verschiedene Staaten Brasiliens mit Hilfe des Brasilianischen Instituts für Musikwissenschaftliche Studien und der Akademie Brasil-Europa durchgeführt, so z.B. nach Mato Grosso do Sul, Mato Grosso, Rondonia, Acre, Amazonas, Roraima, Amapá, Pará, Goiás, Maranhão, Cearáund Tocantins. Ziel war es, vorhandene Netzwerke von Mitarbeitern zu stärken, zu dynamisieren und zu erweitern. Im Ausland wurden Museen und Forschungsinstitutionen in den Vereinigten Staaten - New York, Washington, Philadelphia, Los Angeles, Seattle u.a. - und in verschiedenen Ländern Europas - Frankreich, Schweden, Niederlande, England, Portugal, Spanien, Italien, Schweiz, österreich u.a. - gesichtet. Es wurden drei Hauptexpeditionen durchgeführt, die von Experten geleitet wurden, die am Kongreß in Rio de Janeiro teilgenommen hatten. Eine Gruppe unter Leitung der Anthropologin Prof. Dr. Dr. Julieta de Andrade reiste zweimal für längere Zeit zur Region von Oiapoque. Die zweite Gruppe stand zunächst unter Leitung von Frau Prof. Dr. Heloisa Fenelon, Direktorin der Abteilung für Anthropologie des Nationalmuseums, die mit drei Mitarbeitern zu den Makuxis in Roraima fahren wollte. Nach vorbereitenden Arbeiten an Ort und Stelle erwies sich jedoch dieser Plan als undurchführbar. Auf unseren Vorschlag fuhr die Gruppe dann zu den Karajás in Goiás, eine Forschung, die später von Frau Prof. Suely Brígido fortgeführt wurde. Die dritte Gruppe fuhr mit Unterstützung des Zentrums für indigene Studien und Dokumentation (CEDI) unter Teilnahme von Frau Prof. Dr. Kilza Setti zum Tocantins, namentlich zu einem Krahô-Dorf. Über diese Arbeiten hinaus konnte sich das Projekt auf die Mitarbeit mehrerer - katholischer und evangelischer - Missionare stützen, die bei verschiedenen Indianer-Gruppen tätig sind. Eine besondere Hervorhebung verdient die Teilnahme eines Theologie-Studenten indianischer Abstammung aus der Uaupés-Region Rio Negros, da er aufgenommene Berichte seines seit langem verstorbenen Vaters transkribierte und studierte, sich also mit dem Gedächtnis seiner eigenen Ahnen beschäftigte. Es war übrigens von Anfang an eine der wichtigsten Intentionen dieses Projekts, Indianer selbst in die Arbeit der Aufwertung indigener Kultur einzubeziehen und sie zur Mitarbeit bei der Reflexion über Fragen der Permanenz und des Wandels kulturidentifikatorischer Prozesse aufzufordern. So war es möglich, das außerordentliche Engagement von Indianern und Indigenisten Acres für der Wiederbelebung und Weitergabe indianischer Sprache und Gesänge in Indianer-Schulen festzustellen sowie die Entwicklung von Verfahrensweisen musikalischer Notationen bei den Krahôs und den Austausch von Ideen und Erfahrungen zwischen Indianern, Studenten und Dozenten der Universität São Paulos. Fragen zum Verhältnis zwischen Musik und Religion wurden besonders berücksichtigt, vor allem von den am Projekt mitarbeitenden Missionaren. So wurden Studien über die indigene Perspektive bei hymnologischen Studien an Hochschulinstitutionen Tocantins, besonders bei den Xavantes, veröffentlicht. In der Ausgabe, die heute vorgestellt wird, findet sich eine Arbeit des Salesianers Prof. Georg Lachnitt über die allmähliche Entstehung christlichen Gesangs bei den Xerentes, der ihnen nach und nach im Traum erscheint. Der Redemptorist P. Valber Dias stellte seine Erfahrung von über drei Jahrzehnten des Zusammenlebens bei den Krahôs dem Projekt zur Verfügung. Ohne seine Hilfe wäre heute viel weniger über diese für die Musik außerordentlich wichtige Kultur bekannt. Ein Absicht dieses internationalen Projekts bestand von Anfang an darin, das Interesse für das Studium der Indianer-Kulturen Brasiliens bei Ethnologen und Studenten der Universitäten Europas zu wecken. übrigens diente die für dieses Projekt durchgeführte Forschung von Frau Suely Brígido ihr zur Erlangung des Magistergrads in Kunstanthropologie. Einer der bereits veröffentlichten Bände enthält wiederum die ausgezeichnete Magisterarbeit zum Thema Nhambiquara einer Musikforscherin aus der Schweiz. Die vorliegende Publikation bietet nun Arbeiten von Studierenden der Universität zu Köln, die sich unter meiner Anleitung mit Materialien auseinandersetzten, die aus der Zusammenarbeit mit verschiedenen Ethnologen, Missionaren und Institutionen stammen. So wird eine internationale Arbeit in Gang gesetzt, die auch der Erschließung der Sammlungen von Tonträgern brasilianischer Organisationen dient. Dies ist der Fall bei der Arbeit von Herrn Peter Rodekuhr, der sich mit Gesängen beschäftigt, die von einem Anthropologen der Kommission Pró-Indio aus Acre Anfang 1990 aufgenommen wurden. Der Doktorand Rolf Bäcker versuchte, Gesänge näher zu identifizieren, zu notieren und zu analysieren, die in Aufnahmen des Instituts für Inkulturation Beléms zu hören sind. Ein besonderer Dank gebührt Frau Prof. Dr. Rosangela de Tugny von der Bundesuniversität Minas Gerais, die zu dem vorliegenden Band mit einer wertvollen Studie über die Arbeit beiträgt, die sie in ihrer Institution entfaltet und die eine große Nähe zu unserer Konzeption und Arbeitsweise offenbart. Die Publikation enthält auch einen Bericht über ein Projekt, das den konventionellen Rahmen musikwissenschaftlicher Studien überschreitet. Der nordamerikanische Künstler Michael Tighe stellt hier die Absichten einer im Gang befindlichen Arbeit vor, die das erste, bescheidene Projekt der fotografischen Erhebung der indianischen Musikinstrumente an Museen Brasiliens und des Auslands ersetzt. Seit Jahren waren Musikinstrumente des Museu do Indio, des Museu D. Bosco in Campo Grande, des Museu do Indio von Manaus, des Goeldi-Museums in Belém u.v.a. fotografiert worden. Es ist beabsichtigt, ein ikonographisches Archiv von Musikinstrumenten zu bilden, das der öffentlichkeit durch die Internet-Seiten der Akademie Brasil-Europa zur Verfügung gestellt werden soll. Im Laufe der Arbeiten wurden jedoch - vor allem nach der Konstatierung der sozialen und kulturellen Relevanz mystischer und visionärer Strömungen Amazoniens, die sich nun sogar im Ausland ausbreiten, nämlich des Santo-Dai-Me bzw. der União do Vegetal - neue überlegungen über den Sinn einer konventionellen Systematik und Darstellung der Musikinstrumente angestellt, da sich die traditionellen organologischen Kriterien als zu schematisch und vordergründig erweisen. Auf der Grundlage des fotografierten Materials wurde das Projekt bewegter Bilder entwickelt, das nach dem Makuxi-Begriff für "ich singe" bezeichnet wird und in dem sich die Instrumente selbsttätig um sich selbst drehen und sich ineinander verwandeln. In diesen Metamorphosen erscheinen sie als Sänger und nicht nur als Vehikel, so daß gleichsam die singende Natur selbst repräsentiert wird. Dieses Werk eröffnete 1999 im Hörsaal der Deutschen Welle in Köln den Internationalen Kongreß "Brasil-Europa 500 Jahre: Musik und Visionen", der zum ersten Mal die Musikkultur der Indianer und die visuelle Sprache unserer traditionellen Kulturdarstellungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeiten zum Anlaß des neuen Milleniums stellte. Damit wurde auch das Triennium von wissenschafltichen Arbeiten und Tagungen eröffnet, das heute zu seinem Abschluß kommt. In der langjährigen Geschichte dieses Projekts wurden die einzelnen Phasen stets der öffentlichkeit präsentiert und ausdiskutiert. Seit 1992 fanden z.B. mehrere Vorstellungen im Rahmen von Tagungen statt. Der erste Band der Reihe wurde 1996 in Deutschland, 1997 in Brasilien und Portugal vorgestellt, dort im historischen Sitz des portugiesischen Benediktiner-Ordens, in der Abtei von Tibães. Diese Vorstellung erfolgte im Rahmen des internationalen Symposiums zum Anlaß der übergabe Macaus an China. Da die Aufmerksamkeiten auf die Problematik des Verhältnisses zwischen Ost und West in Musikkultur und Spiritualität gerichtet waren, wurden vor allem geistige, unsichtbare Werte in den Musikkulturen der Indianer hervorgehoben. Der zweite Band der Reihe wurde 1999 im Rahmen des IV. Internationalen Symposiums Kirchenmusik und Brasilianische Kultur unter der Schirmherrschaft der Brasilianischen Botschaft bei der ersten europäischen Ausstellung über das Bilduniversum in Darstellungsweisen und Repräsentationen der Volkskultur Brasiliens vorgestellt. Der dritte Band, der dem Gedächtnis von Helza Cameu und Desiderio Aytai - dem Autor einer monumentalen musikethnologischen Arbeit in der Bescheidenheit seines Refugiums in der kleinen Stadt Paulínia - gewidmet ist, wurde in Deutschland bei einer Feier Anfang 2001 zum Abschluß des Kolloquiums über die euro-brasilianischen Arbeiten in Kultur- und Wissenschaftswissenschaft zu Beginn des dritten Jahrtausends vorgestellt. Es ist für uns also Anlaß zu besonderer Freude, daß der vierte und - wie geplant - vielleicht vorletzte Band dieser Reihe in diesem symbolträchtigten Sala do índio des Museums Diplomatischer Geschichte des Itamaraty-Palasts präsentiert werden kann. Unsere Erinnerungen richten sich an alle Mitarbeiter, die bereits verstorben sind, an alle, die sich heute nicht zu uns gesellen konnten und vor allem an alle Indianer, die mit ihren Gesängen, Tänzen, ihren Informationen und auch ihren Reflexionen zur Entwicklung der Arbeit beigetragen haben. Auch wenn dieses Projekt große Dimensionen annimmt - es wurden bereits über 2000 Seiten publiziert -, auch wenn viel Arbeit und Begeisterung investiert wurden, sind wir uns dessen bewußt, daß es nichts weiter ist als ein kleiner Beitrag zur Aufwertung der indigenen Musikkulturen in Brasilien und im Ausland. Diese Kulturen stellen keine Primitivitäten dar, ganz im Gegenteil! Sie entsprechen - erlauben Sie mir hier diesen Vergleich - den Edelhölzern in der Diversität des Waldes brasilianischer kulturidentifikatorischer Komplexe. Dieser Adel kann von uns vielleicht nicht auf den ersten Blick wahrgenommen werden, zumindest nicht nach den Kriterien unserer konventionellen Musikkultur, die allzu oft leider normativen Charakter erlangt. Man lernt erst allmählich, die eigenen Werte der Indianer-Kulturen zu erkennen, wobei sich ein Universum öffnet, das sich hinter den zunächst scheinbar einfachen und groben Erscheinungsformen verbirgt. Für diese Schärfung unserer Sensibilität für verborgene Reichtümer sind wir zutiefst dankbar. So dient dieses Projekt in erster Linie uns selbst, der Vertiefung unserer Kenntnisse und unseres Wahrnehmungsvermögens.
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